26
Mai
2014

Das Hummelgleichnis

Ich habe in letzter Zeit echt zugenommen. Wenn ich eine Waage hätte, würde die bestimmt sagen: 16,7 Kilogramm über Normalgewicht, oder irgendsowas total genaues. Tut sie aber nicht, denn ich habe keine Waage. Ich kann nur, wenn ich im Stehen an mir runtergucke, meinen Mittelfuß nicht mehr sehen, wenn ich eingeatmet habe. Und ich lasse mir zur Sicherheit einen Bart am Kinn stehen, um das mögliche Doppelkinn nicht im Spiegel betrachten zu müssen. Deswegen haben die meisten etwas pummeligen Typen Bärte. Nicht, weil das so unglaublich gut aussieht. Aber immerhin besser als glattrasiert mit Schwabbelhals unter'm Kinn. Wie auch immer. Ich muss also was dagegen unternehmen, sage ich mir. Joggen ist echt nicht mein Ding, im Moment ist noch nicht mal Treppensteigen wirklich mein Ding, und das, obwohl ich seit über vier Monaten nicht mehr rauche. Ich hab aber auch schon seit September 2013 nicht mehr wirklich Sport gemacht, insofern ist das echt kein Wunder mit der Wampe.

Deswegen bin ich heute in den Media-Markt gegangen, in dem festen Bewusstsein, dass, egal welchen Sport ich nun machen würde, es ohne Musik zu langweilig werden würde. Ich kaufte mir ein Paar In-Ear-Kopfhörer mit Bügel (Modell "Sports Active, wasser-resistent". Ah ja, Wasser also. Ja, das wird das kleinste Problem dieser Kopfhörer sein.) für 15 Euro und war schon so beschwingt und guten Mutes, dass ich es damit fast schon für genug Sport an diesem Tag erklärt hätte. Aber dann flog die Sicherung raus und ließ sich auch zehn Minuten Lang nicht wieder reindrehen.

Fünf Minuten später stand ich in Sportklamotten und Basketballschuhen, mit Basketball unter dem Arm, am Kiosk an der Ecke. Eine Flasche Apfelschorle auf die Hand, auf zum Basketballplatz. Dort angekommen, sah ich einen kleinen, dicken Jungen mit seinem nicht viel größeren, aber dafür um so dickeren Vater Fußball spielen. Zum Glück gab es neben den Basketballkörben, die im umzäunten Fußballplatz über den Toren hingen, noch einen dritten, freistehenden Basketballkorb, so dass man sich als Baller mit den Kickern nicht in die Haare bekommen muss. Ich machte also meine Freiwürfe vor mich hin, dribbelte ein wenig gegen imaginäre Gegner, die ziemlich schlecht verteidigten, und warf einen Korb nach dem anderen. Zumindest traf ich so oft, dass ich auf einmal merkte, dass der kleine, dicke Junge aufgehört hatte, Fußball zu spielen, und mir recht gebannt zuguckte. Er sagte etwas, das ich wegen meiner neu gekauften, Wasser-resistenten Sports-active-Kopfhörer, die ziemlich mit dem in Strömen rinnenden Schweiß zu kämpfen hatten, aber immerhin bis hierhin nicht aus den Ohren gerutscht waren, wegen denen also, konnte ich nicht hören, was der kleine, dicke Junge - nennen wir ihn Kostas, er sah irgendwie griechisch aus - was der zu mir sagte. Ich pflückte einen Stöpsel am Kabel raus: "Häöää?" "Spielst du im Verein? Du triffst ja fast immer!" Ich konnte, mit der mir üblichen Bescheidenheit nur wahrheitsgemäß antworten: "Seit ich 11 Jahre alt bin, nicht mehr. Aber danke." Dann kamen die Kopfhörer rein, und mir wurde klar, warum Kostas nicht mehr mit seinem Vater Fußball spielte. Eine andere Gruppe Jungs in Kostas Alter, aber deutlich sportlicher als er, war angekommen und hatte ihn von dem einen Tor vertrieben. Daraufhin hatte sich sein Vater schwitzend an den Rand des Spielfeldes auf eine Bank gesetzt, und Kostas hatte zwar noch einen Ball und ein Tor, das war ihm aber irgendwann langweilig geworden. Der Ball war außerdem ziemlich platt, wie ich zwischendurch bemerken konnte, als er bei einem Weitschuss in meine Richtung über den Zaun geflogen war, und ich ihn zurückgeschossen hatte.

Dann kamen noch mehr Kids, und die spielten alle fröhlich Fußball, nur den dicken Kostas ließen sie nicht mitspielen. Und das, obwohl er sich sogar bei der Torwartwahl, die traditionell sadistisch per "Stell dich ins Tor und wir alle schießen dir aus zwei Metern Vollspann auf den Arsch, und wer am häufigsten vorbeischießt, muss ins Tor. Ups, wir haben jeder jedes Mal getroffen." durchgeführt wurde, freiwillig als Ziel gemeldet hatte. Recht trostlos saß Kostas dann auf der Bank, auf der vorhin noch sein Vater gesessen hatte, der zwischenzeitlich verschwunden war. Ich war unterdessen weiter in der Zone. Gefühlte Trefferquote von 80% von der Freiwurflinie und 75% aus dem Feld. Kostas saß eingeschnappt da und hielt seinen mittlerweile halb platten Fußball, der von den anderen Jungs richtig kaputtgebolzt worden war, mit beiden knubbeligen Händen vor dem Bauch fest. Ich hatte den Eindruck, er würde gleich anfangen, zu weinen. Aber dann zog er die Nase hoch, warf den Ball trotzig zu Boden und kam auf mich zu. Er sagte etwas. Ich erwiderte, mit der mir gottgegebenen Eloquenz, einen Stöpsel aus dem Ohr ziehend: "Hääää?" Erneute Frage: "Kann ich mitspielen?" Instinktiv zuckte ich zusammen und erinnerte mich daran, dass er vielleicht sieben oder acht Jahre alt war und es weder ihm noch mir etwas bringt, wenn ich ihn jetzt darauf hinweise, dass das grammatisch korrekt heißen sollte "Darf ich mitspielen?". Außerdem ignorierte ich die Tatsache, dass er ungefähr so breit wie hoch war, denn Ehrgeiz blitzte in seinen kleinen Augen. Ich sagte mehr beiläufig: "Warum nicht?" und warf ihm einen Bodenpass zu, den er unbeholfen fing, direkt unter dem Korb stehend, und umso unbeholfener versuchte, im Korb unterzubringen.

Das ist das absolute Gegenteil von Eleganz. Das ist eine Hummel, die mit verklebten Flügeln auf dem Rücken liegt, über sich gebeugt die Manifestation der Physik, die sie anschreit: "Siehst du?! Ich hatte Recht!! Du kannst nicht fliegen!!"

Er wirft ungefähr fünfzehn Mal. Er trifft keinen einzigen Versuch. Manchmal ist es knapp, manchmal erreicht er nicht einmal die Höhe des Korbes, aber er saugt begierig jeden kleinen Tipp bezüglich Wurfhaltung und -position auf, den ich ihm gebe, und probiert, sie umzusetzen. Nach einer Weile beginnt er, immer knapper daneben zu werfen. Mittlerweile sind wir bei locker dreißig vergeblichen Versuchen angekommen. Aber er rennt jedem vom Ring oder vom Brett abspringenden Ball hinterher, und wirft sofort wieder. Er gibt einfach nicht auf. Und dann steht er an der Freiwurflinie, dreht sich zu mir um (ich stehe hinter ihm), guckt mich mit glücklich blitzenden Augen an (ich vermute, er fühlt sich dank meiner steten Ermutigung akzeptiert und ernst genommen, und das brauchen Menschen, um Höchstleistungen zu vollbringen) und wirft. Rückwärts zum Korb stehend. Mit seinen kleinen, dicken Armen. Die es irgendwie gerade hinkriegen, lang genug zu sein, dass er sich den Ball nicht selbst gegen die Stirn haut. Und während der Ball fliegt, guckt er mich siegessicher an. In diesem Moment schüttelt die von der Physik zurechtgestutzte Hummel trotzig ihre Flügel trocken, richtet sich auf, und fliegt los.

Und der Ball versinkt im Korb. Ich klatsche Beifall. Der zufällig in dem Moment wieder mit zwei Cornetto-Eis in der Hand vom Kiosk zurückkehrende kleine, dicke Vater steht mit offenem Mund da, und würde klatschen, wenn er beide Hände frei hätte. Kostas' kleine, dicke Schwester, die neben dem kleinen, dicken Vater steht, nimmt ihr Eis in den Mund und klatscht Beifall. Die Jungs vom Fußballplatz haben es mitbekommen und klatschen auch Beifall. Zufällig vorbeigehende Passanten klatschen, der Beifall steigert sich zu einem Sturm. Ein Ü-Wagen von Sport 1 hält mit quietschenden Reifen am Straßenrand, Frank Buschmann steigt aus und rennt zum kleinen, dicken Kostas rüber, nimmt ihn auf den Arm und brüllt sich vor lauter Superlativen die Stimmbänder kaputt.

Als ich rübergehe, um mit Kostas abzuklatsche, schmeckt es in meinem rechten Mundwinkel ein kleines bisschen salzig.

Optionaler Epilog: Wenn ich mir das nächste Mal Absagen einhandele, oder denke, dass ich etwas nicht schaffen kann, weil es zu schwer ist oder ich vorher schon versagt habe...dann werde ich an die Hummel denken. Und an den kleinen, dicken Kostas, und wie er es einmal geschafft hat, aus über viereinhalb Metern Abstand den Ball rückwärts im Korb zu versenken.
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Semtext's Selbstdarstellung

Raps und Reflektionen, Gedanken und Spinnereien...

Information




Was nicht wert ist, gesagt zu werden, das singt man. (Pierre Augustin Baron de Beaumarchais, frz. Bühnenschriftsteller, 1732-1799)

Das hier ist schlicht, was die Überschrift sagt. Eine Selbstdarstellung. Manche würden sagen öffentliches Tagebuch im lockeren Wochenrythmus, andere wiederum Textsammlung. Mittlerweile auch Rezeptsammlung für Cocktails. Wasauchimmer.

Es ist und bleibt die Selbstdarstellung eines Hobby-Rappers, Poetry Slammers und freiberuflichen Journalisten aus Oldenburg, der von ganz mittig nach ganz oben will. Mit explosiven Texten, die wie Bomben in den Frieden fetzen. Hatte ich mal gedacht. Deswegen der Name Semtext. Wer's nicht kapiert, bitte einfach mal "Semtex" bei Wikipedia oder im Brockhaus nachschlagen.
Man kann von mir mittlerweile auch Texte korrekturlesen lassen.

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skype: semtext. (mit dem Punkt!)


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